Es war mein Masterstudium, das mich für drei Monate nach London führte – zu einem Praktikum, das mir ganz neue Perspektiven eröffnete. Ich begleitete zehn Logopädinnen an neun unterschiedlichen Einsatzorten: fünf Regelschulen, eine Sonderschule, zwei Kliniken und ein Jugendzentrum. Der Fokus meiner Arbeit lag dabei klar auf dem schulischen Umfeld, in einem Bereich, der mich besonders interessierte.
Schon früh fiel mir auf, dass die Rolle der Logopädinnen in englischen Schulen anders konzipiert ist als in der Schweiz. Die Kinder, die ich dort sah, hatten selten Probleme mit Lautbildung oder Grammatik. Vielmehr ging es um grundlegende Schwierigkeiten, sich sprachlich und emotional auszudrücken. Verhalten stand häufig im Mittelpunkt: Viele Kinder hatten ADHS, Autismus oder selektiven Mutismus – Themen, die im englischen Schulalltag stark präsent sind.
Zum Einsatz kamen unterstützende Hilfsmittel wie Symbolkarten, Regulationsboards und das Zeichensystem Makaton mit Bildern und Gesten. Ziel war nicht eine „korrekte Sprache“, sondern funktionierende Kommunikation im Alltag. Therapien mit Fokus auf Lautkorrektur fanden eher ausserhalb der Schule in privaten Kliniken statt. Das waren Orte, wo Eltern die Kosten selbst übernahmen.
Ein Moment, der mir besonders im Gedächtnis blieb: In einer Schulklasse wurde ein „Blumenmodell“ kreiert, um Gefühle für ein Kind mit Autismus greifbar zu machen – individuell abgestimmt auf seine besondere Faszination für Pflanzen. Blühte die Blume, ging es dem Kind gut. Hingen die Blätter, fehlte etwas. Dann lautete die Frage: „Die Blume braucht vielleicht Wasser – was brauchst du?“ Statt Wasser auf das Kind zu giessen, durfte es in diesem Fall ein kleines Glas mit Erde mitnehmen. Er konnte es tragen, öffnen, fühlen oder riechen – immer dann, wenn es half, sich zu regulieren.
Trotz ihrer bedeutenden Rolle sind Logopädinnen und Logopäden in vielen Schulen nicht fest eingebunden. Sie arbeiten meist tageweise, kommen für einzelne Beratungen oder Fallbesprechungen. Ihre Empfehlungen sind oft willkommen, werden aber nicht immer langfristig umgesetzt. Das erinnerte mich an die Schweiz: Es mangelt oft an konstanter personeller Besetzung: Bei Logopädinnen ebenso wie bei Lehrpersonen. Eine enge Zusammenarbeit ist dadurch erschwert.
Das Praktikum eröffnete mir einen neuen Blick auf Logopädie im schulischen Kontext. Ich lernte, wie eng Sprache mit Verhalten, Emotionen und Alltag verknüpft ist. Die Ansätze waren nicht besser, aber individuell, flexibel und bewusst anders gedacht. Ich nehme viele Impulse für mehr Zusammenarbeit über Disziplinen hinweg, für kontextsensibles Fördern und für individuelle Wege zur Sprache mit.
Nicole Portugal, Masterstudentin Logopädie
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